"Zwischenräume". Jüdisch-christliche Lebenswelten unter venezianischer Herrschaft im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit

"Zwischenräume". Jüdisch-christliche Lebenswelten unter venezianischer Herrschaft im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit

Organisatoren
Deutsches Studienzentrum in Venedig; Dipartimento di Studi Storici, Universität Ca’ Foscari; Vereinigung für Jüdische Studien e. V.
Ort
Venedig
Land
Italy
Vom - Bis
05.09.2007 - 07.09.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniel Jütte, Harvard University

Das venezianische Judentum im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nimmt in der jüdischen Geschichte fraglos eine exzeptionelle Rolle ein. Dies gilt sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht. Die Lagunenstadt war über mehrere Jahrhunderte hinweg eine der quantitativ bedeutsamsten und intellektuell profiliertesten Zentren des europäischen Judentums. Die Serenissima war aber auch die Geburtsstadt des ersten obrigkeitlich errichteten Ghettos (1516). Von Venedig aus verbreiteten sich das Konzept und die Bezeichnung „Ghetto“ seit dem 16. Jahrhundert über ganz Europa.

Der Geschichte des venezianischen Judentums sind vor allem aus diesen genannten Gründen zahllose Studien gewidmet worden. Auch zwei internationale Wissenschaftlertreffen sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Die von Gaetano Cozzi 1983 ausgerichtete Tagung 1 sowie eine Konferenz in Verona im Jahr 2003 2.

Darüber hinaus herrscht weder an Überblicksstudien noch an Detailforschung Mangel 3. Gleichwohl muss festgestellt werden, dass mitunter in der Forschung immer noch eine Tendenz zur Polarisierung begegnet, namentlich eine allzu kategorische Gegenüberstellung von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit. Die in jüngerer Zeit vor allem im englischsprachigen Raum entwickelten und zunehmend differenzierten Konzepte der Colonial Studies bieten demgegenüber eine Möglichkeit, in den Beziehungen zwischen religiösen oder ethnischen Mehr- und Minderheiten eben auch Austausch- sowie Adaptionsprozesse und somit eben nicht lediglich Mechanismen der Unterdrückung und Diskriminierung sichtbar werden zu lassen.

Der Frage, inwieweit sich solche Konzepte heuristisch und exemplarisch auf die jüdische Geschichte der Lagunenstadt und ihrer Territorien anwenden lassen, hat sich vom 5. bis zum 7. September 2007 unter dem Titel „Interstizi“, zu deutsch: „Zwischenräume“, eine in Venedig veranstaltete internationale Konferenz gewidmet. Ausgerichtet wurde diese vom Deutschen Studienzentrum in Venedig, dem Dipartimento di Studi Storici der venezianischen Universität Ca’ Foscari und der Vereinigung für Jüdische Studien e. V.

Die Konferenz, die von der Fritz Thyssen-Stiftung unterstützt wurde, fand im Deutschen Studienzentrum in Venedig sowie in den Räumen des Historischen Seminars der Universität Ca’ Foscari statt. Konferenzsprachen waren Deutsch, Englisch und Italienisch. Das Spektrum der Referenten reichte von Historikern, darunter aus den Teildisziplinen der Wirtschafts- , der mittelalterlichen und der jüdischen Geschichte, bis hin zu Judaisten und Sprachwissenschaftlern. Sie alle waren von den Organisatoren gebeten worden, in ihren Referaten nach Möglichkeit vor allem die Anwendbarkeit des vom Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha geprägten Konzeptes des Zwischenraums 4 für die Geschichte(n) des venezianischen Judentums zu prüfen.

„Culture ebraico-cristiane a Venezia e nei domini veneziani tra basso medioevo e prima epoca moderna“, dieser Untertitel umreißt ein weiteres wichtiges Anliegen der Organisatoren: Die Konferenz sollten ausdrücklich weder ‚lediglich’ um die Stadt Venedig selbst noch ausschließlich um ihre politische und wirtschaftliche Geschichte kreisen. So sollten beispielsweise, wie durch den italienischen Plural „culture“ bereits angedeutet, auch kulturelle und alltagsgeschichtliche Praktiken untersucht werden. In räumlicher Hinsicht wiederum sollte der Blick über die Lagune hinaus auch auf das venezianische Territorium auf dem Festland, die sog. Terraferma, als auch auf den Stato da mar, also Stützpunkte und Einflussgebiete der Serenissima im Mittelmeer gerichtet werden.

Für die eröffnende Sektion, die sich an die Begrüßung durch den Direktor des Deutschen Studienzentrums und Mitorganisator UWE ISRAEL anschloss, waren Referenten gewonnen worden, deren Vorträge über die venezianische Geschichte im engeren Sinne hinauswiesen und durch eine sowohl in epochenspezifischer wie topographischer Hinsicht breite Perspektive Probleme und Desiderate der Forschung aufzeigten. KENNETH STOW (Haifa) skizzierte unter dem Titel „Jews and Christians – two different cultures?“ die bisherigen Forschungsergebnisse seines aktuellen Forschungsprojekts zur Rolle und Instrumentalisierung des ius commune in der Judenpolitik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Der Emeritus der Universität Haifa umriss die Schwierigkeiten, die sich für christliche Juristen durch die namentlich in Städten wie Venedig virulente Frage ergab, ob und inwieweit Juden als Glieder des symbolischen Staatskörpers und damit auch als Rechtssubjekte betrachtet werden könnten. Stow verwies in diesem Zusammenhang auf unterschiedliche Auffassungen unter Juristen der Frühen Neuzeit. Er skizzierte, dass mitunter in kirchlichen Kreisen das ius commune gezielt instrumentalisiert und herangezogen wurde, um den Repressionsgrad der Judenpolitik zu steigern. Durch die intensive Diskussion über die rechtliche Stellung der Juden und die prinzipielle Rolle dieser Minderheit im Staatskörper seien aber wiederum bereits im frühneuzeitlichen Italien Fragen aufgeworfen wurden, die im 19. Jahrhundert unter dem Schlagwort Emanzipation an Aktualität gewannen. Dies demonstrierte Stow etwa am Beispiel der Diskussion unter italienischen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts über die juristische Gültigkeit jüdischer Heiraten.

ALFRED HAVERKAMP (Trier) unternahm in seinem Vortrag den Versuch, eine Lanze für die in der jüdischen Geschichte nach wie vor nicht ausreichend betriebene vergleichende Forschung zu brechen. Der Trierer Mediävist verglich Kernbereiche jüdischen Lebens nördlich und südlich der Alpen. Haverkamp verwies auf Möglichkeiten, aber auch Grenzen solcher komparativen Untersuchungen. So fallen beispielsweise mit Blick auf jüdische Migrationsströme Unterschiede auf. Nördlich der Alpen verlagerte sich jüdisches Leben, wie Haverkamp in einer tour de horizon durch Mittelalter und frühe Neuzeit umriss, graduell von Westen nach Osten und von den Städten auf das Land, wohingegen südlich der Alpen eine Migration von Süden in die oberitalienischen Städte zu konstatieren ist. Auch in der rechtlichen Gestaltung der Beziehung zwischen Juden und Obrigkeit können signifikante Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa festgestellt werden, wie Haverkamp an der Praxis der italienischen condotte, also befristeter Ansiedlungserlaubnisse für jüdische Bankiers, aufzeigte. Unterschiede sind ebenso hinsichtlich der Rolle und den Formen kirchlicher Judenfeindschaft hervorzuheben, etwa mit Blick auf die Polemik der Bettelmönche. Gleichwohl plädierte Haverkamp eindrücklich dafür, die Geschichte des italienischen und des deutschen Judentums nicht rigoros zu trennen. Er sprach vielmehr explizit die „untrennbaren Beziehen der Juden“ nördlich und südlich der Alpen an und veranschaulichte durch Beispiele das dichte Netz der Kontakte innerhalb des mitteleuropäischen Judentums.

An die Eröffnungssektion, die einen weiten Bogen gespannt hatte, knüpfte eine Reihe von lokalen Fallstudien an. GIAN MARIA VARANINI (Verona) zeichnete die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Verona in der frühen Neuzeit nach. Varanini verdeutlichte, dass die Beziehungen zwischen der Stadt und ihren jüdischen Bewohnern sich für den Historiker in hohem Maße als fragil darstellen und in der Praxis gewissermaßen permanenten Verhandlungsprozessen, auf diskursiver und politischer Ebene, unterworfen waren. Die Auswirkungen personeller Veränderungen im Kreise der Stadtoberen auf das Schicksal der Juden konnten gravierend sein. Weitaus massiver allerdings erschütterte die Einrichtung von monti di pietà den traditionellen jüdisch-christlichen Zwischenraum, wie er sich vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen konstituiert hatte. Die Bedeutung predigender Franziskanermönche wie namentlich Bernardino da Siena für diese Entwicklung und die Destabilisierung der Beziehungen zwischen Juden und Christen insgesamt erwähnte auch RACHELE SCURO (Siena), die sich in ihrem Referat den Kontakten zwischen Mehr- und Minderheit am Beispiel der venezianischen Städte Bassano und Vicenza im 15. Jahrhundert widmete. Auch Scuro wies ausdrücklich darauf hin, dass die Situation der jüdischen Banken von lokalen Parametern stark abhängig war, wobei sich in relativer Unabhängigkeit von der venezianischen Oberherrschaft von Stadt zu Stadt die obrigkeitliche Politik gegenüber den Juden recht unterschiedlich gestaltete. Daraus resultierten wiederum Unterschiede in der Berufsstruktur der jeweiligen Judenschaften, wie Scuro am Beispiel des durch die Krise jüdischer Banken verstärkten Handels mit gebrauchten Waren veranschaulichte. Die Möglichkeit für einen Juden, Vertrauen auf christlicher Seite aufzubauen, stellt sich für Scuro insgesamt als ein häufig individualisiertes Phänomen dar, wie sie am Beispiel eines im Geldgeschäft aktiven jüdischen Vaters und seines Sohns veranschaulichte, deren Beziehungen zur christlichen Umwelt höchst unterschiedlich ausfielen.

Von der venezianischen Terraferma schweifte der Blick vor allem in der anknüpfenden Sektion auf die Territorien der Serenissima im Mittelmeer. DAVID JACOBY (Jerusalem) schilderte die schwierige Situation der Juden von Kreta nach der Eroberung der Insel im frühen 13. Jahrhundert durch die Venezianer. Zwar hatten viele jüdische Inselbewohner den Anbruch der venezianischen Herrschaft begrüßt und sahen sich fortan durch wirtschaftliche Privilegierungen und ein gewisses Maß an Rechtssicherheit in ihren Hoffnungen nicht getäuscht. Demgegenüber erwies sich das Leben unter venezianischer Herrschaft in manchen Bereichen aber auch als schwieriger. Jacoby verwies in diesem Zusammenhang auf repressive Maßnahmen, wie etwa die Erhöhung der von den Juden zu entrichtenden Steuern, aber auch den fortan obligatorischen Charakter des Judenabzeichens. Die isolierte Stellung der Juden auf Kreta rührte nicht zuletzt, so der Jerusalemer Historiker, von der gespannten Beziehung mit der griechisch-orthodoxen Bevölkerungsgruppe her, die sich etwa durch die Vergabe von Privilegien an Juden nach der venezianischen Eroberung benachteiligt sah.

Dass die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auch im frühneuzeitlichen Kreta dominierten, veranschaulichte BENJAMIN ARBEL (Tel Aviv). Er verwies auf das durchaus ungewöhnliche breite Berufsspektrum der Juden von Kreta, mahnte aber, solche Phänomene oder etwa auch Tendenzen in der Namensgebung vorschnell als Indikatoren für Integration anzunehmen. Arbel kam zu dem Ergebnis, dass die Juden auf Kreta im 16. Jahrhundert zwar nach wie vor auf wirtschaftlicher Ebene nicht selten über enge Beziehungen zur griechischen Bevölkerung und zur venezianischen Elite verfügten. Von Integration in die Gesellschaft könne aber kaum die Rede sein. In diesen Zusammenhang fügte sich auch das Referat von PHOTIS BAROUTSOS (Athen) ein, der den Fokus auf die bislang vergleichsweise wenig untersuchte Judenschaft der unter venezianische Herrschaft gelangten Insel Korfu richtete. Baroutsos sieht den Grund für die zunehmende Isolation der Juden von Korfu weniger in der Judenpolitik der Serenissima als vielmehr im Erstarken der Gruppe der cittadini, also einer Bürgerelite der Insel, die das Recht auf den Kontakt mit den venezianischen Oberbehörden zunehmend für sich beanspruchte und die Juden damit aus lokalen Entscheidungsprozessen drängte.

Als Schwierigkeit für das Knüpfen von privaten Kontakten zwischen Juden und Christen dürfte sich paradoxerweise in der mittelalterlichen Stadt, und dies wohl weit über venezianisches Gebiet hinaus, offenbar nicht selten ausgerechnet die Nähe dieser Religionsgruppen erwiesen haben. ANGELA MÖSCHTER (Trier) zeichnete dies am Beispiel eines außerordentlich gut überlieferten Prozesses gegen den Juden Frizel Rapp in Treviso im Jahr 1449 nach. Sie verwies in der Diskussion ihres Referats zudem auf den bezeichnenden Fall eines Juden, der ebenfalls im 15. Jahrhundert so nahe an einer Kirche wohnte, dass er die Feier des christlichen Gottesdienstes von seinem Fenster aus ansehen konnte. Christen wiederum erspähten empört, dass der Jude im Augenblick der Wandlung nicht ehrfürchtig auf die Knie gefallen war.

Dieses Beispiel darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich italienische Juden in Fragen der gesellschaftlich sanktionierten Sitten nicht selten dezidiert an der christlichen Umwelt orientierten. ELIOTT HOROWITZ (Tel Aviv) widmete sich in einem ebenso anregenden wie amüsanten Referat dem Kuss als „social ritual among Jews and Christians“. Flankiert von Ausblicken bis hinein ins 20. Jahrhundert stellte Horowitz frühneuzeitliche hebräische Briefe vor, die den Versuch der jüdischen Schreiber dokumentieren, die in christlichen Kreisen sich formierende, regelrechte Wissenschaft vom richtigen Küssen als Ehrbekundung zu übernehmen. Zu prüfen wäre, inwieweit in diesem Zusammenhang beispielsweise Castigliones „Cortegiano“ jüdische Leser fand.

Ungewöhnlich wären solche Lektüren durchaus nicht. Intellektuelle und intertextuelle Zwischenräume in den christlich-jüdischen Beziehungen loteten beispielsweise KARL E. GRÖZINGER (Potsdam) und GIACOMO CORAZZOL (Berlin) aus. Grözinger zeichnete das geistige Profil des berühmten venezianischen Seicento-Rabbiners Leone Modena nach. Er verdeutlichte, dass im Œuevre des Rabbiners, das sich auf den ersten Blick zu nicht unbeträchtlichen Teilen als eine verwirrende Fülle von Polemiken gegen Rabbinismus, Christentum, Kabbala und Islam präsentiert, ein ebenso kohärentes wie kühnes Konzept greifbar wird. Modena habe den Versuch unternommen, ein vorrabbinisches, vorchristliches und vorislamisches Urjudentum zu konstruieren. Der Kategorie der natürlichen Vernunft sei in diesem Zusammenhang eine wichtige Bedeutung zugekommen.

Corazzol widmete sich neuen Quellen zu Pico della Mirandolas Kabbala-Rezeption. Für die historische Forschung boten die religionswissenschaftlich ausgerichteten Referate nicht zuletzt deswegen eine wichtige Anregung, weil sie verdeutlichten, dass die oft überdurchschnittlich gut dokumentierten, gewissermaßen papiernen Zwischenräume zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten nicht vorschnell als Zeugnisse eines in Religionsfragen entschärften Diskurses gedeutet werden sollten. Die Geschichte des Kontakts zwischen jüdischen Gelehrten und christlichen Hebraisten und Kabbalisten in der italienischen Renaissance ist vielmehr nicht selten auch eine Geschichte falscher Erwartungshaltungen und pragmatischer Umdeutungen.

RAFAEL ARNOLD (Paderborn) wandte das Konzept des Zwischenraums aus der Sicht des Sprachwissenschaftlers an. Er untersuchte vor allem frühneuzeitliche Testamente, die von sefardischen Juden Venedigs hinterlassen wurden. In diesen Quellen lässt sich die Vermischung des Spanischen und Portugiesischen mit dem von den Emigranten in Venedig erlernten Italienischen nachweisen und somit ein Stück des alltagssprachlichen Facettenreichtums im Ghetto von Venedig erahnen. Einen Einblick in das Alltagsleben im von Mauern umgebenen Ghetto bot auch das Referat von Robert Jütte (Stuttgart). Er stellte den Fall einer spektakulären Geburt siamesischer Zwillinge im venezianischen Ghetto 1575 vor. Das Ereignis selbst verwandelte das Ghetto zumindest für kurze Dauer in einen buchstäblichen Zwischenraum: Die Wundergeburt habe damals solches Aufsehen erregt, dass aus Venedig und dem Umland zahlreiche Juden und Nichtjuden ins Ghetto strömten. Die intertextuellen Zwischenräume wiederum, die dieses Ereignis stiftete, offenbaren sich in kurz darauf gedruckten Flugschriften. Christliche Autoren wie auch jüdische Chronisten beschäftigten sich intensiv mit der Deutung des Ereignisses und gewähren dem Historiker dadurch Einblick in die jeweilige Wissenshorizonte: Die jüdischen Quellen etwa lassen auf eine Vertrautheit mit damaligen medizinischen Erklärungen von (Miss-)Geburten schließen.

Ein solches Wissen fügt sich in gewisser Weise in das Bild, das RENATA SEGRE (Venedig) von den Fähigkeiten jüdischer Mediziner im Mittelalter zeichnete. Segre untersuchte in ihrem Referat konkret die Ansiedlung jüdischer bzw. konvertierter Ärzte im Venedig an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Gestützt auf neuere Archivfunde umriss sie die schwierige Stellung dieser Berufsgruppe. Zwar sei das Wirken der jüdischen Mediziner von seiten der Serenissima offenbar ausdrücklich aufgrund deren Qualifikation gewünscht worden. Dem Druck zur Taufe aber konnten sich viele gleichwohl nicht entziehen, was auch die Formel „olim iudeus“ hinter manchen dieser Namen bezeugt.

Mit der für das jüdische Leben in Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit insgesamt wohl wichtigsten Berufsgruppe, den Geldverleihern, beschäftigten sich REINHOLD MUELLER (Venedig) und MIRIAM DAVIDE (Triest). Mueller zeichnete die Anfänge der jüdischen Banken in Mestre und Venedig nach. Das Wirken aschkenasischer Juden in der verglichen mit Venedig beschaulichen Stadt Mestre im Spätmittelalter ist für Mueller mitnichten nur eine Fußnote der jüdischen Geschichte. Vielmehr bietet sich am Beispiel der im 15. Jahrhundert einflussreichen Judenschaft von Mestre für den Historiker die Möglichkeit, innerhalb eines Mikrokosmos die Formierungsprozesse, aber auch die Schwierigkeiten des jüdischen Geldverleihs zu analysieren. Das Beispiel Mestre erlaubt allerdings ebenso, um an Muellers Bemerkungen zur dortigen Produktion bedeutender jiddischer Handschriften anzuknüpfen, die Analyse der Transformation von ökonomischem in kulturelles Kapital. Die jüdischen Geldverleiher Mestres im Spätmittelalter erscheinen in diesem Zusammenhang somit keineswegs lediglich als geschickte Protagonisten in einem prekären ökonomischen Zwischenraum. Vielmehr erweisen sie sich als bedeutende Mittler von Wissen über die Alpen hinweg.

MIRIAM DAVIDE wiederum rückte die Aktivitäten jüdischer Frauen, namentlich Witwen, im Bankenwesen in den Mittelpunkt ihres Referats. Davide, die faszinierende Zeugnisse für die Aktivitäten jüdischer Frauen in diesem brisanten und komplizierten wirtschaftlichen Sektor präsentierte, plädierte gleichwohl dafür, auch das Wirken von jüdischen Frauen in weiteren Branchen genauer zu untersuchen: So finden sich bereits im Spätmittelalter beispielsweise Spuren des geschickten Wirkens jüdischer Frauen in Bereichen wie dem Textilverkauf, dem Handel mit Gebrauchtwaren sowie dem Verkauf von Juwelen. Davide widmete sich in ihrem Referat darüber hinaus dem Vergleich mit christlichen Frauen, nicht ohne den Verweis, dass auch innerhalb des Judentums selbst noch vergleichende Forschungen nötig sind. Das Geschäftsgebaren aschkenasischer und italienischer Jüdinnen unterscheide sich, so Davide, im Spätmittelalter zum Beispiel durchaus markant.

Resümierend ist festzustellen: Die Konferenz war von einer durchweg hohen Qualität der Referate und Diskussionen geprägt. Der Tagungsband, der geplant ist, dürfte daher einen genuinen Beitrag zur Forschung über das ansonsten nicht eben unzureichend untersuchte venezianische Judentum liefern. Ob sich das Konzept der Zwischenräume als Paradigma in der jüdischen Geschichte, zumindest der Frühneuzeitforschung, festigen kann, müssen allerdings weitere, zukünftige Studien erweisen. Die Ergebnisse vieler Referate sprechen durchaus dafür, obgleich einige Teilnehmer der Konferenz in den Diskussionen Skepsis äußerten und eine allzu schwammige Terminologie der vor allem literaturwissenschaftlichen Referenztexte bemängelten.

Unabhängig von solchen historiographischen Fragen erwies sich durch die Konferenz auf der Ebene des Wissenschaftsbetriebs selbst eindrücklich die Notwendigkeit von kontinuierlich gepflegten Zwischenräumen, in denen ein interdisziplinärer Austausch im Fach jüdische Geschichte stattfinden kann. Denn nach wie vor dürfte als dringliches Desiderat der Forschung die in manchen Referaten eingeforderten vergleichenden Studien gelten. So wurde beispielsweise deutlich, dass sich pauschale Aussagen über die Judenpolitik im venezianischen Territorium des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit kaum treffen lassen. Die Unterschiede in der lokalen Praxis der Judenpolitik zwischen Terraferma, Lagune und Stato da Mar sind allzu markant. Hier ist also von Historikern, die sich zukünftig an einen Überblick wagen wollen, eine Art venezianische Binnenkomparatistik gefordert, die angesichts der steigenden Zahl von ortsspezifischen Untersuchungen auf einem stabilen Fundament aufbauen kann. Nicht minder wichtig dürfte allerdings auch der inneritalienische und europäische Vergleich sein. Vergleiche mit Städten nördlich der Alpen wie etwa Frankfurt könnten hier zu einer Schärfung der am lokalen Beispiel gewonnenen Forschungsergebnisse beitragen.

Anmerkungen:
1 Cozzi, Gaetano (Hrsg.), Gli Ebrei e Venezia. Secoli XIV – XVIII, Mailand 1987.
2 Varanini, Gian Maria; Mueller, Reinhold C. (Hrsg.), Ebrei nella Terraferma veneta del Quattrocento, Florenz 2005.
3 Vgl. zur Orientierung Davis, Robert C. (Hrsg.), The Jews of Early Modern Venice, Baltimore 2001.
4 Bhabha, Homi K., The location of culture, London 1994.


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